redACtionsbureau Reportage

Einfallstore: zu Atlantikern und Ureuropäern

Vom Gateway Stonehenge zu den keltischen Regionen der Britischen Insel

Ende Juni 2015 — Aachen – Hoek van Holland – Harwich – Stonehenge


Schon die Anreise war die reine Freude. Versonnen, gedankenverloren und in Vorfreude auf eine Tour an die westlichen Ränder Europas, deren viele Etappen sich zu einem Wegenetz verspinnen, das wir „The Celtic Way“ genannt haben. Wir sind diesmal quer durch England angereist, nachdem uns die Stena Hollandia gegen 20:00 Uhr in Harwich an Land ließ. Die britischen Passkontrollen waren akribisch und quälend lang. Großbritannien gehört nicht zu den Staaten des "Schengener Abkommens", Irland übrigens auch nicht.

Die Fahrt durch die helle Mittsommernacht führte uns über die breiten Motorways um London herum, dann weiter westwärts und schließlich abseits auf engen Straßen bis 8 km vor Stonehenge. In einem Hohlweg blieben wir um 00:30 Uhr stehen, parkten uns an die Einmündung eines Weizenfeldes dicht an den Rand der haushohen Hecken unter die Dächer der mächtigen Bäume. Nach einem kurzen Anleger, einem kaltem Bier, fielen wir müde ins Bett. Ein Reisemobil hat etliche Nachteile, dies jedoch ist einer seiner größten Vorteile: schlafen können, wo man gerade ist.

Stonehenge

Um 6:00 Uhr werden wir wach. Sonne über uns. Raus aus den Federn und ab nach Stonehenge. Schon nach 10 Minuten sehen wir von der hoch gelegenen Autostraße die fernen Steintore auf einem weiten Plateau im strahlenden Morgenlicht. Am Straßenrand huscht ein Gatter an uns vorbei, ein Eingang, ein Wanderweg. Der könnte für uns genau richtig sein. Nur wenige 100 Meter weiter stehen Autos im Feld. Die Einmündung der kleinen Stichstraße ist schnell erreicht. Fotografen lehnen an ihren Wagen und diskutieren ihr Bildmaterial aus den zeitlosen Minuten des frühen Sonnenaufgangs, der diesen Ort in lichte Erhabenheit taucht. Hier sind wir richtig. Die Koordinaten nehmen wir auf.

Wir ziehen Wanderschuhe an und laufen an der dicht befahrenen Schnellstraße am Wegesrand zurück. Auf der Ebene linker Hand ragen fern und erhaben die mächtigen Monolithe empor. Es ist nicht ungefährlich, am schnell fahrenden Verkehr entlang zu laufen. Wir finden das Gatter, offen. Ein breiter Weg öffnet sich Richtung Steinkreis. Er führt auf eine Schafsweide, auf der die Muttertiere die Lämmer säugen und aufgeregt davonstieben, als wir näherkommen. Der Weg verjüngt sich. Ein ausgetretener Pfad führt uns an einem mit Stacheldraht bewehrten Holzzaun entlang, hinauf auf eine Tangente zum Stone Circle. Im fernen Rund des prächtigen Steinkreises taucht überraschend die neongelbe Weste eines Wachmannes auf, der zwischen den mächtigen Steintoren Patrouille geht.

Stonehenge

Weitläufig ist das Gebiet abgesperrt, wegen der Anziehungskraft seines magischen Zentrums. Doch der Weg ist das Ziel und dieser Wanderpfad hier ist der Weg einer triumphierenden Erkenntnis: wahre Fans und neugierige Nasen können sehr nahe herankommen an den energetischen Kern des steinzeitlichen Kraftfelds. Der Pfad führt bis auf geschätzte 150 Meter heran an den Kreis, der zum Inbegriff der Megalithkultur geworden ist und vielen phantasiebegabten Geistern den Zugang erschloss zu den verloren geglaubten Sphären der steinzeitlichen Welten. Diesmal ist er auch für uns das Einfallstor, das Gateway zu einer neuen Zeitreise.

Wir haben zum Auftakt unserer diesjährigen Tour zu den keltischen Regionen das östliche Tor auf der britischen Insel erreicht. Stonehenge ist ein wunderbarer Einstieg. Dieser Ort weist bis in die entferntesten Epochen der Besiedlung Europas zurück, bis in verlorene mystifizierte Welten der vorkeltischen Zeiten, tief hinab in die postglaziale Vorgeschichte des sich erwärmenden Kontinents nach der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren, versteinert und dennoch lebendig. Im Zeitraffer der Geologie ist der Rückzug der schmelzenden Gletscher noch deutlich sichtbar. Die natürlichen Spuren jener fernen Jahrtausende sind leichter zu lesen als die kulturellen Phänome. Sie werden wohl eher als schwache Hintergrundstrahlung der prähistorischen Relikte sichtbar, die den aufmerksamen Betrachter ahnen lässt, dass fern am Horizont jener vergangenen Zeiten unsere Gegenwart heraufdämmert und der zögerliche Aufgang der Neuzeit schon zu erkennen ist. Der Mensch erscheint im Holozän.

Stonehenge

Wie Wegweiser säumen die steinzeitlichen Monumentalbauten die Küsten Westeuropas, von Galizien bis Frankreich, über die Kanalinseln und Großbritannien nordwärts bis hinauf nach Schottland und hinüber nach Irland. Es sind Meilensteine in Zeit und Raum, die am Wegesrand auch dieser Reise liegen und denen wir – landauf zeitab – folgen wollen. Bislang sind die Menschen, die jene Bauwerke errichteten und uns Heutigen hinterließen im Dunkel der Geschichte verborgen geblieben. Neuerdings werden sie universell die „Atlantiker“ genannt. Ihre Siedlungen und Kultstätten markieren einen riesigen gemeinsamen Kulturkreis, der sich seinerzeit schon über weite Entfernungen erstreckte. Er verband Regionen, die offenbar in einem intensiven Austausch standen, vom östlichen Mittelmeer und Nordafrika, die gesamte Westatlantikküste hinauf, bis in die hohe Nordsee und den rauen Nordatlantik. Ihre Bauwerke bezeugen eine immer noch rätselvolle Epoche, die ab 4.000 vor der Zeitenwende gerechnet wird.

Stonehenge kennzeichnet die Blüte ihrer architektonischen, technischen und astronomischen Leistungskraft, mit der jene Menschen 2.500 vor Christus hier ein Zentrum ihrer Hochkultur errichteten. Die Magie des Ortes nimmt auch uns an diesem frühen Sommermorgen gefangen, je näher wir kommen. Mächtige horizontale Dachsteine bilden die Torbögen der Anlage, deren tonnenschwere Portale majestätisch emporragen. Hypothesen und Mutmaßungen ersetzen unser historisches Wissen über ihren Sinn und ihren Zweck. Stonehenge ist eine Projektionsfläche: eine archaische Tempelanlage, ein druidischer Chronometer, ein megalithischer Zeitmesser des Sonnenlaufs. Ein Herrschaftsbezirk des vorgeschichtlichen Weltenwissens oder ein naturreligiöses Heiligtum, das bis heute von Sagen und Mythen umwoben ist.

Stonehenge

Inmitten der sommerlichen Wiesen erhebt sich dieser umgrenzte Bezirk als das Zentrum der weitläufigen Landschaft ringsum, als der Mittelpunkt der sichtbaren Welt. In der Ferne liegen kappenartige Hügel, ?Gräber?, die in einem fixen Radius dieses Zentrum umkreisen. Hohe Spiritualität haftet diesem Ort an. Er ist zur Sommer- und Wintersonnenwende immer noch ein religiöser Wallfahrtsort, und ganzjährig ein touristischer. Die Tickets beim Visitor Center des National Trust werden für £14.50 in portionierten Zeittakten und gruppenweise vergeben. In den erlauchten Kreis kommt man dafür jedoch immer noch nicht, sondern nur auf eine Tribüne, die genau vor einem der äußeren Wächtersteine gebaut ist. Ihre Plastikstege sollen den geheiligten Boden des Weltkulturerbes vor den Füßen der Besuchermassen schützen. Dieser Ort ist ein Selbstläufer. Seinen unnahbaren Boden schlurfen nun die Wächter platt.

Zugang zum Mittelpunkt der druidischen Weisheit besteht jedoch vor und nach den Öffnungszeiten des Visitor Centers, und zwar in den frühen Morgen- und späten Abendstunden. Diese Führungen in den inneren Kreis der Anlage sind bei lokalen Veranstaltern ab £90 pro Person zu buchen, Kinder £75. Der Zutritt ist ansonsten verwehrt.

Unser Tipp: Im frühen Morgen und späten Abend allein hier spazieren gehen, diesen fantastischen Ort still genießen und seinen Geschichten lauschen.

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