redACtionsbureau Reportage

Am Rand der Anderwelt: Dún Aonghasa

Nach Inis Mór, wo Land auf See und Himmel trifft

28.07. — Inis Oírr (engl. Inisheer) – Inish Mór (engl. Inishmore)

Jäh schlägt das Alarmsystem des Körpers an. Adrenalin schießt in die Blutbahn und bringt den Puls auf Touren. Mit jedem Schritt, jedem noch so vorsichtigen Schritt hin zur nahen Klippe sendet das Hirn immer eindringlichere Warnsignale. Der Aufwind von See scheint an der Steilkante, je näher du kommst, immer heftiger zu böen, als wolle er dich zurückschieben. Ein zweifelhafter Widerstand, der zwei Meter vor dem Abgrund ernsthaft nicht überwunden werden will. Alles, aber auch alles in dir warnt dich eindringlich davor, kraftvoll gegen ihn anzugehen: Ihn überwinden heißt fallen! Adrenalin pur. Noch ein Meter. Dann stürzt die Klippe von Dún Aonghasa 300 Fuß hinab ins Meer. Das sind 100 schreckliche Meter, die hier oben, ungesichert im trügerisch unsteten Wind, selbst bei Schwindelfreiheit nicht zu ertragen sind. Der letzte Meter ist unüberwindlich. Der Atem stockt. Das Herz beginnt wild zu pochen, die Nerven fibrieren. Bis in den Magen, bis in die Eingeweide: gellende archaische Angst. Es ist unmöglich, sich aufrecht bis an die haltlose Kante des Kliffs zu wagen. Selbst bäuchlings, den Kopf langsam über die Kante schiebend, schreit alles in dir: keinen Zentimeter mehr weiter! Während die kolossale Aussicht dich zieht: hinaus und hinab. Pádraigín Clancy hatte uns gewarnt...

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Wir hatten pünktlich um drei die kleine Fähre von Inis Oírr (engl. Inisheer) genommen. Über Anns Garten lag erhaben die mittelalterliche Burg der O’Briens auf einem 50 Meter hohen Hügel in der Sonne, auf der höchsten und alles überragenden Stelle der Insel. Das wehrhafte Gemäuer stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist von den Resten des vermutet mittelalterlichen Ringforts Dún Formna umgeben. Trutzig schaut es nach Südosten hinüber zu den Cliffs of Moher, und nach Nordwesten zu den Bruderforts auf Inis Meáin und Inis Mór. Dorthin sollten wir mit der Dreiuhrfähre übersetzen, hinüber nach Dún Aonghasa. Doch noch war Zeit. Unser mittäglicher Rundgang auf Inis Oírr hatte uns im Netz der schroffen Mauerparzellen südwärts zum Leuchtturm geführt und wieder zurück. Um halb drei waren wir am Hafen, wo David mit den Rucksäcken wartete und sich sichtlich über eine Aufbewahrungsgebühr freute. Ja, die Saison ist kurz. Um 15 Uhr legte die kleine Fähre auf Inis Oírr ab. Wir ließen uns übersetzen nach Inis Mór (engl. Inishmore) oder "Árainn", wie die große, die Hauptinsel mit jenem anderem Namen heißt. Sie gibt dem gesamten Archipel seinen Namen: Oileáin Árainn (engl. Aran Islands), einstmals bekannt als die Inseln der Heiligen und Gelehrten.

Doch wo übernachten wir? Suchen wir uns ein Quartier oder zelten wir? Und wenn ja, wo? Wir entschlossen uns für den direkten Weg: das erstgelegene Haus am Fährhafen von Cill Rónáin (engl: Kilronan) aufzusuchen und dort nachzufragen. Es ist das Pier House B&B. Gesagt, getan und Glück gehabt. Eigentlich waren sie ausgebucht, aber wegen des vorausgegangenen Wetters war jemand kurzfristig abgesprungen. So ein Zufall! Wir buchten ein, mieteten uns nebenan auf Rat der nahen Tourist Information sogleich zwei Bikes und radelten noch an jenem späten Nachmittag los: auf nach Dún Aonghasa. Um sechs macht das dortige Visitor Center zu. Es liegt am Rand von Kilmurvey, einem kleinen Craft Village. Immerhin eine dreiviertel Stunde mit dem Bike trennt Cill Rónáin von diesem eindrucksvollen Ort.

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Kurz vor Schließung kamen wir am Visitor Center an, die Räder mussten noch abgestellt werden. Es geht dort nur zu Fuß weiter. Wir trafen tatsächlich noch jemanden an: die Historikerin Pádraigín Clancy. Und bald schon waren wir in eine spannende Diskussion über die Vorzeit und Archäologie, über keltische Spiritualität und die irische Sprache verwickelt. Der Rundgang mit Pádraigín durch die kleine Ausstellung wurde für uns zu einer erstklassigen Einführung in die Bronzezeit, die fernen Tage der Entstehung der Anlage und ihres Wiederaufbaus im frühen Mittelalter. Hinter uns schloss Pádraigín die Türen und schickte uns hinauf, an das Tor zur Anderswelt, nicht ohne uns vor der sirenenhaften Magie der Klippen zu warnen.

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Damals wie heute führt der Pfad auf klobigen Wegen und groben Stiegen hinan zum Eingang auf dem meeresnahen Hügel. Drei Schwellen sind zu passieren. Oben geht der Blick über das weite Meer hinaus bis an den Horizont, hinter dem sich die Unendlichkeit des Nordatlantik erstreckt, 3000 Kilometer Wasserwüste bis nach Neufundland. Im Südwesten erscheinen an klaren Tagen wie diesen vor der nahen Landspitze von Inis Meáin deutlich die Cliffs of Moher. Dahinter entschwindet im Dunst die Küste Irlands gen Süden. Rückwärts, zu Füßen des Hillforts, erstreckt sich das weite Land von Árainn, oder Inish Mór, wie sie heute sagen. Es verschwindet bei Eintritt durch die Pforte hinter der mächtigen ersten Mauer, die den Besucher weithin umschließt. Der zweite Eingang wird sichtbar, ein kleiner Anstieg folgt, und schon im Portal, beim Eintreten in den inneren Bereich, öffnet sich dieser atemberaubende Ausblick: ein grüngraues Halbrund aus schrundigem Stein hoch über dem weiten Meer, von einer mächtigen grauen Mauer umschlossen. Zur Seeseite hin ein scharfer Abrissrand, als sei der Halbrund durchgeschnitten. Hier erhebt sich, fast in der Mitte der Kliffkante, ein natürliches kleines Plateau aus dem flachen Boden, eine letzte rechteckige Ebene, ein verbliebener Rest einer ringsum abgetragenen Gesteinslage, der wie ein Altar, erhaben vor dem atlantischen Himmel, über dem endlosen Ozean thront. Eine Bühne für Opferpriester. Und mit jedem Schritt, jedem weiteren vorsichtigen, annähernden Schritt vorwärts an die Klippe steigt der Adrenalinpegel.

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Nun liegen wir bäuchlings auf der Kliffkante, schieben den Kopf langsam über die schaurige Tiefe, während unsere vitalen Alarmsignale unentwegt im ganzen Körper toben und alle Lebensgeister rufen eindringlich: keinen Zentimeter weiter! Diese Aussicht zieht dich hinaus und hinab! Sie ist atemberaubend, beängstigend schön! Tosende Brandung schlägt tief und weit unter uns an die mächtige Steilküste, wo kantiges Land und schäumende See kollidieren. Und bis an den gleißenden Horizont, wo Wolken und Wasser im Himmel zerfließen, gibt es nur das endlose wogende Meer. Dies ist die Schwelle zur Anderswelt, der metaphysische Rand des bronzezeitlichen Kosmos, wo Land und See und Himmel sich begegnen, Übergangssphären vom Einst zum Immer im Gezeitengebiet zwischen Leben und Tod, eine Passage vom Diesseits zum Jenseits. So jedenfalls mögen es die Menschen der Bronzezeit gesehen haben, hatte Pádraigín uns erzählt. Diese Vorstellung ist am Rand der Klippe nur allzu leicht nachvollziehbar, zwischen Faszination und Todesangst. Und es ist schier unerträglich, den Anderen eingangs dieser Pforte stehen zu sehen.

Wir können uns kaum trennen. Ein Regenguss erleichtert den Abschied und wir radeln zwischen Schauern und Sonnenschein unter einem prächtigen Regenbogen zurück zu unserem Hotel. Beim Abendessen lassen wir unseren erlebnisreichen Tag noch einmal Revue passieren. Aus hauseigener heimischer Küche gibt es selbstgebackenes Brot mit Kerry Butter, dann lokale, frisch geerntete Muscheln an Tagliatelle: ein italo-keltisches Mahl für den Welttourismus, mit überregional inspirierter Guinness-Soße und globalem Parmesan. Köstlich! Die Amerikaner im Saal bestellen Ketchup dazu. Weltläufigkeit trifft auf lokale Erzeuger.

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