redACtionsbureau Reportage

Im Borderland

Über die grünen Grenzen Irlands

Niall und Sarah hatten uns freundlich empfangen, ein irisch herzliches Wiedersehen. Die jungen Leute haben das Anwesen der Familie zu einem touristischen Highlight gemacht, das Cottage der Großeltern zu einem Museum ausgebaut, die Wiesen zu einem Camping­platz gemacht und die Nebengebäude zu einem Hostel mit Bistro, Vortrags- und Versamm­lungsraum: zum »Megalithic Centre« von Loughcrew. Während des Studiums in Dublin hatten sie sich kennengelernt und ineinander verliebt. Überrascht stellten sie fest, dass sie nur wenige Kilometer von einander entfernt aufgewachsen waren, ohne sich je zuvor begegnet zu sein, nahe Oldcastle, in der irischen Grafschaft Meath unweit der Grenze zu Nordirland.

Die beiden haben uns für elf Uhr eine professionelle Führung arrangiert. Gut instruiert wollen wir in die Steinzeit wandern. Doch wir sind viel zu früh: 10:30 Uhr. Typisch deutsch. Schließlich bedeutet »11 a.m.« zwar »elf Uhr vormittags«, aber für eine irische Verab­redung heißt das noch lange nicht »eleven o`clock«, sondern »elevenish«: leicht bis schwer verspätet irgendwann nach elf. Die Zeit tickt hier anders. Wir warten auf unseren Tour Guide und erzählen.

Ja, heiß war der Sommer, ungewöhnlich heiß und trocken. Wo man auch hinkam, in Pubs, Fleischerläden oder Supermärkten, überall galt das in Irland unvermeidbare Gesprächs­thema »Wetter« der seit Mai anhaltenden Trockenheit: Nach einem trüben und kalten Frühjahr habe sich ein Hochdruckgebiet ganz offensichtlich heillos verirrt und sei dann – orientierungslos und erschöpft von der selbst verursachten Hitze – einfach liegen geblieben. Durstig, vor einem Pub, wahrscheinlich in Doolin, County Clare, wo Musik und Gesang die Durchreisenden immer schon zu längerem Verweilen verführt haben.

So war das! Niall nickt. Über Wochen kein nennenswerter Regen, lange genug kein Wölkchen am blauen Himmel: in Irland! „Die Iren können es selber kaum glauben“, lacht Sarah. Der Wetterbericht zeigt nun schon seit Wochen einen makellosen Himmel über der Grünen Insel wie über ganz Mitteleuropa. Für Klimawandel hält das kaum jemand hier. Also warum nicht das Leben in all seinen Schönheiten genießen, wie sie uns hier und heute geschenkt werden. Morgen ist ein anderer Tag. Auch wenn die Breaking News zum Brexit zuweilen die Gemüter erhitzt.

Wir warten auf unseren Tour Guide. Im Bistro gibt es frischen Kaffee: Wie unsere Reise denn so war? „Sie war fantastisch! Wahrscheinlich auch der vielen Sonne wegen.“ Wir waren vor vier Wochen von hier aus nordwestwärts gezogen, von Oldcastle nach Enniskillen zur nordirischen Seenplatte, angelockt von Lough Erne, wo die Bootstouren nach Devenish Island starten. Dort an der westwärts führenden Pilgerstraße nach Mayo, am bußfertigen Weg zu Irlands heiligem Berg Croagh Patrick, hatte St Molaise im 6. Jhd. ein Kloster nebst Schule gegründet, wo erstmals Kindern ab sieben Lesen und Schreiben beigebracht wurde. Denn die heiligen – weit mehr als die profanen – Schriften brauchten Kopisten, die das Wort Gottes vervielfältigten und illustrierten, um es in die Welt zu tragen.

Über 1.000 Jahre hinweg war das Kloster eines der bedeutendsten spirituellen Zentren in der alten, damals geeinten Nordprovinz Ulster, ein Ort der Gastfreundschaft, wie der Dichter Cuimin of Con anno 650 notierte. Noch heute überragt der prächtige Rundturm die Ruinen und weist neben Yachten und Ausflugsbooten einer kleinen Fähre den Weg zur Insel: in die Anfänge der iro-schottischen Christianisierung West- und Mitteleuropas. Ihre religiösen und kulturellen Impulse prägten die politisch und ideologisch destabilisierten Gesellschaften und Ethnien des frühen Mittelalters, als mit dem Untergang des Römischen Reiches die europäische Zentralmacht gestürzt war. Und sie wirken bis heute.

Pralle Sonne rief uns ans Meer. Wir verließen die alte Pilgerstraße. Doch die andächtige Ruhe von Devenish und die Stille der Seenlandschaft begleitete uns bis in die Auen und Wälder um Lough MacNean. Der See teilt das Grenzland in »Norden« und »Süden«. Moderne Pilger führt eine Brücke über den Belcoo River: von Nordirland in die Republik, die A4 wird N16. Gleich auf der anderen Seite in Carrickmore geht links die Marble Arch Road wieder ins Vereinigte Königreich über. Schlagbäume alle Hundert Meter kann sich hier niemand wirklich vorstellen, um von den Wasserwegen ganz zu schweigen.

In einem Geflecht aus kleinen Straßen, Wegen und Pfaden hat das Leben die offiziellen Staatsgrenzen übersponnen, hier unten zwischen County Fermanagh (NI) und County Cavan und Leintrim (IRE) wie auch oben im Borderland zwischen Donegal (IRE) und der Grafschaft Londonderry (NI). 270 solcher durchlässiger Straßenpunkte soll es geben auf den 370 Kilometern der verflüchtigten Grenze. Nicht anders ist es im Osten, etwa zwischen County Louth (IRE) und County Armagh und Down (NI). Die Menschen leben und arbeiten diesseits und jenseits in beiden staatlichen Hoheitsgebieten. Studenten der Universität von Ulster in Coleraine (NI) kommen aus Nord-Donegal. Lehrer in Drogeda (IRE) pendeln von Newry (NI) aus zur Schule. Wohnen oder Einkaufen geht man dort, wo das Angebot stimmt oder der Sprit preiswerter ist. Diesel ist in Irland billiger. Handwerker arbeiten beiderseits der Grenze. Farmer jauchen die Äcker im Nachbarland.

In der Lebenswelt der Grenzbewohner wurde die Trennung der Grünen Insel durch die schöpferische Kraft eines stinknormalen Alltags zusehends aufgehoben. Gerade in der Europäischen Union ist eine Normalität entstanden, die den Nordirlandkonflikt seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 durch gemeinsame Alltagsinteressen befriedet hat. Die feilgebotenen Ideen zum Brexit bedrohen diese reibungslose Selbstverständlichkeit und wecken alte Ängste. Denn noch sind die befestigten Grenzen aus den Zeiten der Troubles – zumindest bei der älteren Generation – nicht vergessen.

Kreuz und quer sind wir über diese unmerkliche grüne Grenze der Grünen Insel gefahren. Touristen wie wir erkennen allenfalls an den Verkehrsschildern, dass sie von der Republik ins Vereinigte Königreich gelangt sind, wo die Schilder nun Meilen statt Kilometer anzeigen und wo das Guinness, der Campingplatz und das B&B nun in Pfund bezahlt werden müssen statt in Euro. Doch zurzeit lassen Plakate die Grenzgänger aufmerken: No Borders in Ireland! Respektiert unser Votum! 55,78 Prozent der Nordiren hatten am 23. Juni 2016 gegen den Brexit gestimmt und für den Verbleib in der EU. „Und mehr als 60 Prozent der Schotten“, ergänzt Niall. „Ja, genau genommen 62%.“ Die politische Lage ist verwirrend.

Ausgerechnet der Brexit, vorwiegend ein Votum der alten Generation Englands, angeheizt durch gezielte Desinformation und Xenophobie, gefährdet diese eingespielte Normalität und beschränkt gerade hier die Perspektiven der jungen Menschen. Ausgerechnet die nordirische Nationalpartei, die DUP, verschafft Theresa May jene dünne parlamentarische Mehrheit, die sie stützt, um den Brexit durchzusetzen. Eine Partei, die für die Leugnung des Klimawandels steht oder das Abtreibungsverbot. Noch im Mai 2018 war es gegenüber in Irland unter dem tosenden Jubel der Frauen in einer Volksabstimmung mit Zweidrittel­mehrheit abgeschafft worden. Wer kann da verstehen, dass eine ultrakonservative Partei die Zukunftsfragen Nordirlands entscheidet: gegen die Mehrheit der eigenen Bevölkerung.

Dennoch ist diese Grenze zur Nagelprobe der EU-Austrittsverhandlungen geworden. Viele hatten längst vergessen, dass es sie überhaupt noch gibt oder eine Bedeutung haben könnte. Und auch wir schauten eigentlich zum ersten Mal auf die politische Karte der Insel, die mit einer Fläche von ca. 70.000 km² so groß ist wie Bayern, aber nur halb soviel Einwohner zählt: 4,9 Mio. in der Republik, 1,9 Mio. in Nordirland bei 13 Mio. im größten Flächenstaat Deutschlands. „Nein, nicht nur um das Straßennetz zu studieren, sondern um die Staatsgrenzen zu finden.“ Denn ein Nordwestkurs von Dublin nach Donegal schlängelt sich wechselweise über beide Hoheitsgebiete: diagonal mitten hindurch.

So kamen wir damals nach Loughcrew. Denn wir wollten hinauf in den hohen Norden, in den Norden der Grünen Insel wohlgemerkt: quer durch Donegal, quer durch Nordirland und zurück in die Republik. Den »Norden« nimmt man hier beim Wort und wir verstanden schnell: Der politischen Orientierung und geografischen Verortung halber muss man schon genau sein mit Nord und Süd. Am windigen Malin Head, dem nördlichsten Punkt der Grünen Insel, wird es am deutlichsten, dass die Himmelsrichtungen begrifflich auf den Kopf gestellt sein können. Denn der »Norden« bedeutet für Iren und viele Nicht-Iren schlichtweg »Nordirland«. Das sind die sechs der neun im Vereinigten Königreich verbliebenen Grafschaften in der alten, nunmehr geteilten Provinz Ulster. Sie liegen auf der östlichen Seite von Lough Foyle. Gegenüber im Westen grenzt die Republik Irland an. Dort schiebt sich die Halbinsel Inishowen in den rauen Atlantik – einige Breitenminuten näher zum Pol als die Küste Nordirlands. Deshalb liegt dort – geografisch gesehen – »der Norden« bereits im Süden und paradoxerweise »der Süden« im Norden. Denn für Nordiren wiederum ist die Republik kurz und bündig »The South«. Der »Nordwesten« indessen, das ist jedem klar, das sind die grandiosen Küsten-, Berg- und Moorlandschaften von Donegal.

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