redACtionsbureau Reportage

Inis Mór, die Mächtige

Das Klippenfort am Rand der Anderswelt

Wir standen schon lange am Hafen, als irgendwann gegen Mittag die kleine Fähre einlief. Der Bootsmann grüßte: „...ihr hattet das beste Wetter der letzten drei Wochen!“ Also dann, auf nach Inis Mór, zur Hauptinsel! Nach „Árainn“, wie sie im Gälischen heißt. Sie ist die größte und mächtigste. Sie gab den Schwestern ihren Namen, den Familiennamen: Oileáin Árainn.

Das erstgelegene Haus am Fährhafen von Cill Rónáin ist das Pier House B&B, wenige Hundert Meter vom Anleger. „Eigentlich waren wir ausgebucht, aber wegen des Wetters der vorausgegangenen Tage ist jemand kurzfristig abgesprungen.“ „Wie kann man nur wegen so schönem Wetter absagen?“ Die Rezeptionistin lachte, wir buchten ein, mieteten zwei Räder im Aran Bike Hire und radelten am späten Nachmittag los: nach Dún Aonghasa. Um sechs schließt das Visitor Center dort. Das hatten wir nicht bedacht. Das Fort liegt am Rand von Kilmurvey, einer kleinen Crafter Village an der Steilküste, von Cill Rónáin aus eine Dreiviertelstunde mit dem Fahrrad.

Fünf Minuten vor der Schließung erreichten wir schnaufend das Visitor Center unterhalb von Dún Aonghasa. Räder müssen am Eingang abgestellt werden, es geht nur zu Fuß weiter. Die Tür war noch offen. Wir trafen tatsächlich noch jemanden an: Pádraigín Clancy. Sie ließ uns noch ein, ja sie nahm sich sogar noch die Zeit, uns durch die kleine Ausstellung zu begleiten, auf einen Rundgang in die Bronzezeit. Wir streiften die fernen Tage der Entstehung der Anlage und ihres Wiederaufbaus im frühen Mittelalter. Schon bald waren wir in eine spannende Diskussion vertieft.

Wir sprachen über die irische Sprache, die die Verbundenheit der Gemeinschaft zu ihrer Lebenswelt begrifflich bewahrt, heilige Orte kennt und ihre Relation zum Damals. Noch immer wird Gälisch in der Abgeschiedenheit der Aran Island „gelebt“, geschützt vor Übergriffen der englischen Herrschaftssprache: wie die bodennahen Pflanzen in den Klüften ihres karstigen erodierten Bodens. Pádraigín möchte ein Buch über die gälische Sprache schreiben, über „The Living Landscapes“, über die sinnliche Bedeutung der Ortsnamen und den lebendigen Kosmos dieser untergehenden Sprache, deren hohe soziale Bindungskraft ihr zusehends entgleitet.

Pádraigín hat in Dublin Geschichte studiert, Folklore und Archäologie. Schon ihre Mutter war Historikerin. Seit frühester Jugend hatte sie sich für keltische Mythologie interessiert. Ihr Thema Keltische Spiritualität hat Pádraigín in Radio- und TV-Sendungen populär gemacht. Nach Forschungsarbeiten auf den Arans entschied sie sich, von der Hauptstadt hierhin zu ziehen, um selbst in der Stille der Inseln zu leben und ihrer Wissenschaft nachzugehen. „Einst war Irland bekannt als die Insel der Heiligen und Gelehrten. Und die Aran Islands sind ein ganz besonderer Rückzugsort“, wie sie selbst weiß: „Diese asketische Landschaft begünstigt Kontemplation.“

Wir hörten ihr fasziniert zu, sprachen über die frühen Siedler der Bronzezeit, die über die Biskaya nordwärts nach Irland kamen, und über archaischen Jenseitsglauben. Über keltische Mythologie und über die Vorstellung der Anderswelt, die das Verhältnis von Leben und Tod als Gegenwärtigkeit begreift, als Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit. In dieser Übergangssphäre zwischen Leben und Tod sind die Grenzen fließend und zu besonderen Zeiten offen. Und fast hätten auch wir die vorrückende Zeit vergessen.

Hinter uns schloss Pádraigín die Türen und entließ uns hinauf nach Dún Aonghasa, an das Tor zur Anderswelt, nicht ohne uns vor dem sirenenhaften Zauber der Klippen zu warnen. „Wagt euch nicht zu nahe an den Abgrund. Bitte nicht! Dún Aonghasa ist ein magischer Ort. Und es ist unerträglich, einen geliebten Menschen am Rande dieser Klippe stehen zu sehen!“

Die Abendsonne neigte sich gen Westen. Der Weg hinter dem flachen Gebäude führte an ein kleines Tor. Es ist nur angelehnt und auch nachts stets unverschlossen. Einst wie jetzt strebt ein breiter Pfad auf klobigen Steinen und groben Stiegen hinan auf den meeresnahen Hügel. Graues, feindliches Gemäuer bildet den hohen Außenring und die beiden Innenwälle des Forts. Davor liegen weithin verstreut als spanische Reiter scharfkantige Steine, die einst wie jetzt eine rasche Überquerung des Vorfelds verhindern und Angreifer den Geschossen der Verteidiger aussetzten.

Drei Schwellen sind zu passieren, zwei Tore zu durchschreiten, dann ist die höchste Ebene erreicht, der innere Bereich, ein karges Auditorium, ein Halbrund, das abrupt ins Meer stürzt. Fast in der Mitte der Bruchkante erhebt sich am Rande des Kliffs ein natürliches kleines Plateau aus dem flachen Boden, eine letzte rechteckige Ebene, der verbliebene Rest einer ringsum abgetragenen Gesteinslage. Wie ein Altar thront sie über dem endlosen Ozean, überdacht von den Wolken des atlantischen Himmels. Eine Bühne für archaische Opferpriester.

Rabenkrähen laufen davon, krächzen höhnisch, um sich abrupt hinabzustürzen in die Tiefe und mit breiten Flügeln in irrwitziger Fahrt wieder emporzuschießen, als habe sie jemand auf die Klippe zurückgeschleudert. Ein kühler Hauch strömt über das Hochplateau. Auflandiger Wind weht über dem Abgrund, nimmt seewärts zu und scheint an der Steilkante immer böiger zu werden, je näher du kommst. So als wolle der Wind dich bremsen, als wolle er dich zurückschieben, als könne er dich halten. Doch es ist ein zweifelhafter Widerstand. Ein Wahn, ein falscher Zauber. Vertraue ihm nicht! „Bitte, nicht!“ Jäh schlägt das Alarmsystem des Körpers an. Adrenalin schießt in die Blutbahn und beschleunigt den Puls. Merklich beginnt das Herz zu pochen.

Der auffrischende Wind hat den Himmel aufgerissen und treibt die letzten Wolken über die Galway Bay. Die tiefstehende Sonne hat das Meer in wogendes gleißendes Quecksilber verwandelt. Mit jedem Schritt, jedem noch so vorsichtigen Schritt, hin zur nahen Steilklippe sendet das Hirn immer eindringlichere Warnsignale aus. Kaum fünf Meter sind es noch bis zum jähen Abgrund. „Bitte, nicht!“ Gebannt fällt der Blick über die mörderische Kante, tiefer und tiefer, doch noch ist kein Grund zu sehen.

Noch einen vorsichtigen Schritt voran, den Körper leicht vorgebeugt. Alles, aber auch alles in dir mahnt dich eindringlich, nicht noch näher heranzutreten. Alles in dir warnt dich davor, dich nicht gegen diesen Wind zu stemmen: „Wenn er abreißt, jetzt – zwei Meter vor dem nahen Abgrund – schlagartig innehält, dann stolperst du voran, dann stürzt du vorwärts und vornüber!“ Ihn überwinden heißt fallen!

Noch einen kleinen Fuß voran. Adrenalin pur. Kaum einen Meter noch, dann stürzt die Klippe von Dún Aonghasa 300 Fuß hinab in die aufgewühlte See. Das sind 100 schreckliche Meter, die hier oben – ungesichert im trügerisch unsteten Wind – selbst bei Schwindelfreiheit nicht zu ertragen sind. Der letzte Meter ist unüberwindlich. Der Atem stockt. Das Herz beginnt wild zu rasen, die Nerven vibrieren. Bis in den Magen, bis in die Eingeweide: gellende archaische Angst. Es ist unmöglich, sich aufrecht bis an diese haltlose Kante zu wagen. Und zugleich zieht dich diese kolossale Aussicht: hinaus und hinab.

Dies ist die Schwelle zur Anderswelt, der metaphysische Rand des bronzezeitlichen Kosmos, wo Land und See und Himmel sich begegnen, Übergangssphären vom Einst zum Immer im Gezeitengebiet zwischen Leben und Tod, eine Passage vom Diesseits zum Jenseits. So jedenfalls mögen es die Menschen der Bronzezeit gesehen haben, so hatte Pádraigín es uns erzählt. Diese Vorstellung ist am Rand der Klippe nur allzu leicht nachvollziehbar, zwischen Faszination und Todesangst.

Ja, es ist unerträglich, einen geliebten Menschen am Rande dieser Klippe stehen zu sehen! Pádraigín hatte recht. Wir liegen mit breit gegrätschten Beinen am Abgrund, Hand in Hand auf dem vom Wind polierten karstigen Boden. Selbst bäuchlings ist jede Vorwärtsbewegung ein Kraftakt. Langsam schieben wir die Köpfe über die schaurige Tiefe, während die vitalen Alarmsignale im ganzen Körper toben und alle Lebensgeister eindringlich rufen: keinen Zentimeter weiter! Diese Aussicht ist atemberaubend, beängstigend schön! Tosende Brandung schlägt tief unter uns an die mächtige Steilküste, wo kantiges Land und schäumende See kollidieren. Und der Blick in die Weite geht hinaus bis an den gleißenden Horizont, wo Wolken und Wasser im Himmel zerfließen.

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