Editorial: Unterwegs in Irland

Werkstattbericht: Zeitarbeit vor Johnny´s Garage

VON HEINZ BÜCK



Heute weiß ich mit einiger Gewissheit, dass Samuel Beckett vor einer irischen Garage auf die Idee zu seinem Bühnenstück ´Warten auf Godot´ gekommen sein muss. Denn als wir mit defekter Gangschaltung frühmorgens im verschlafenen Cahersiveen endlich eine Werkstatt fanden, standen wir lange vor verschlossener Tür im Niemandsland, offen für die Eingebungen des Zufalls und ungeahnter Gesetzmäßigkeiten. Wartezeit macht gedankenverloren.


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Um halb acht auf dem Weg nach Cork versagte nach wenigen Kilometern die Schaltung. Anfahren im dritten Gang ist unerquicklich. Und es ist kein beruhigender Gedanke, ohne Rückwärtsgang auf einspurigen irischen Sträßchen mit einem Kastenwagen zu fahren. Bei seinem riesigen Wendekreis hoffte ich inständig auf einen größeren Kreisverkehr, um irgendwie drehen und wieder zurückfahren zu können. Es gelang uns auf einem leicht abschüssigen Schotterplatz mit sanftem Zurückrollen und vorsichtigem Vorwärtswiederanfahren.


Als wir um acht nach Cahersiveen zurückkamen, hatte die Tankstelle einer Supermarktkette schon geöffnet. Die Kassiererin war wach und sich sehr sicher; Johnny würde helfen können. „He is very good“, versicherte sie mehrmals und rief uns im Hinausgehen noch hinterher, Johnny werde so gegen neun Uhr aufmachen, bestimmt um Viertel nach neun. Das hätte uns stutzig machen sollen. Doch wir machten uns sogleich auf die Suche.

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Irische Wegbeschreibungen lauten etwa so: „...du fährst jetzt eine halbe Meile die Straße runter, dann rechts über die Brücke und dann immer geradeaus bis zu dem grünen Haus, das sie letztes Jahr abgerissen haben.“ Wir fanden Johnny´s Garage. Nach einer kleinen Odyssee und ausholenden Wendemanövern in dem kleinen Städtchen fanden wir sie so gegen halb neun, verschlossen wie versprochen. Im erwachenden Morgen stand ich am Tor der Garage, trank meinen Kaffee und wartete. Der Termin in Cork war ganz offensichtlich gefährdet.


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Nach zwanzig Minuten hielt überraschend das Postauto neben mir: ob ich auf Johnny warte? „Ja!“ Der komme immer so gegen neun, knurrte der Postbote ebenso kurz angebunden wie ich, grüßte und weg war er. Nach weiteren zehn Minuten hielt ein Kleinwagen: ob ich auf Johnny warte? „Oh ja! Der kommt doch immer so um neun, oder?“ „Genau - so um neun“, und weg war auch er.


Hatte nicht Heinrich Böll in seinem Irischen Tagebuch geschrieben, dass »die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen seien, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen«? So ist es. Tatsächlich! Doch spätestens mittags kann von Kurzangebundenheit keine Rede mehr sein und bis spät in die Nacht nehmen ab dann alle Gespräche einen sehr verlässlichen, episch breiten Verlauf. Das wusste ich inzwischen. Sie alle sind leidenschaftliche Geschichtenerzähler - und sehr hilfsbereit.

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Nach fünfzehn Minuten hielt der Kleinwagen erneut: Ob Johnny noch nicht da sei? Also wenn es abends spät geworden sei, dann könne es morgens auch schon mal halb zehn werden. Er könne ja mal eben anrufen. Johnny nahm nicht ab. Mein Helfer sprach ihm kurz aufs Band: Johnny möge doch bald mal vorbeikommen, er werde gebraucht. Dann musste er selber weg, seine Frau zur Arbeit bringen. Sie betreut eine alte Dame, er muss pünktlich sein. Der Termin in Cork fiel mir wieder ein.


Währenddessen festigte sich in mir jener Gedanke, dass Samuel Beckett vor einer irischen Werkstatt gestanden haben muss, wartend auf Godot. Es wird so gegen neun Uhr gewesen sein, als er den Eingebungen der Welt lauschte und dem Hier und Jetzt tagträumerisch entglitt. William Butler Yeats hätte bei all seiner Vorliebe für Mythologie und Magie mit einem solch trivial anmutenden Stoff vielleicht weniger anfangen können oder sie in sinistren Bildern überformt. Denn gerade er wusste um die Gesetzmäßigkeiten der Anderwelt, die Menschen abseits irischer Garagen verborgen bleiben.


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Bruchstücke Yeatsscher Zeilen kamen mir an jenem Morgen schemenhaft in den Sinn. Ich habe sie wiedergefunden. Sie stammen aus Kapitel 1 und sind der Einleitung des Übersetzers zu William Butler Yeats´ Erzählungen und Essays entnommen.

»Die Leute auf dem Lande erwarten, sie werden im Jenseits Häuser haben, ganz wie ihre irdischen Wohnstätten, nur wird das Dachstroh dort niemals undicht und die weißen Wände verlieren ihren Schimmer nicht. Auch wird die Milchkammer nie leer von guter Milch und Butter. Hin und wieder aber wird ein Gutsherr, ein Anwalt oder ein Steuerbeamter vorbeigehen und um einen Bissen Brot betteln, auf dass offenbar werde, wie Gott den Gerechten vom Sünder scheidet.«

Die Sonne stieg allmählich über die Wolken. Auch sie tritt in Irland offenbar nicht vor zehn Uhr ihren Dienst an. Um sieben schaute sie für gewöhnlich über den Horizont und dann verschwand sie meist wieder für zwei Stündchen unter der weiten Wolkendecke. An diesem Tag haben wir es begriffen: Sie richtet sich nach den hiesigen ortsüblichen Öffnungszeiten. Und darauf ist wirklich Verlass. Um zehn hielt ein Geländewagen vor der Garage...

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Übrigens: Johnny ist wirklich very good, wirklich very very good. Er hat alles bestens geregelt, der Gute. Nach drei Tagen konnten wir unsere Tour planmäßig fortsetzen. Wir zahlten in bar. Die Rechnung wollte er uns noch nachsenden. Wir mussten ja dann Hals über Kopf nach Cork. Ja, er werde sie am Wochenende fertig machen und auf die Post geben, wenn nichts dazwischen kommt. Das steht fest. Denn es ist nicht wie bei uns, wo die Leute einem viel versprechen, die Verabredungen nicht einhalten und einfach nicht zurückrufen. Nein, es braucht halt einfach alles seine Zeit, eine andere Zeit, als wir sie kennen.

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@ Johnny: Wenn du diese Zeilen liest, Johnny, bitte denk doch noch an die versprochene Rechnung.





Damals mussten wir etwas überhastet aufbrechen. Doch es war der Auftakt zu einer wunderbar entspannten Tour durch Irland - von Cork im Süden die Westküste entlang und hinauf in den Donegal. Mitreisende sind auch heute noch eingeladen, uns virtuell zu begleiten, zu den hiesigen ortsüblichen Öffnungszeiten, versteht sich.