Holzmedien: Späne der Erinnerung

Holzmedien: Späne der Erinnerung

Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010

Wir waren verabredet, um über sein Reisetagebuch zu reden. Wilfried hat es mitgebracht - und natürlich die Fotos, die wir uns ansehen wollten.



Von Heinz Bück

Aus einem Leinenbeutel zieht Wilfried Henßen eine fotokopierte Leimbindung, reicht mir ein pfundschweres Papier, wie es für Examensarbeiten in den Copyshpos der Universitätsviertel zusammengebacken wird: sein Reisetagebuch von der ersten großen Tour 2010. Neben das gebundene Skript legt er sein Fotoalbum und schaut mich gespannt an. Ob ich denn glaube, dass wir das publizieren könnten?

So muss das Hochzeitsalbum meiner Urgroßmutter ausgesehen haben. Ein dicker Wälzer aus braunem holzreichen Karton, mit fettem Bund und bauchigem Rücken, der die Fadenheftung darunter schützt. Ein Relikt aus einem anderen Jahrtausend, aus einem fernen Jahrhundert, aus einer vergangenen Ära. Schwer zu datieren, vermutlich aus Zeiten, als erste mutige Amateure den Pionieren der analogen Photographie auflauerten und ihnen die Balgenkameras abgerungen haben. Ich bin schwer beeindruckt und ein wenig sprachlos.

Das Fotoalbum der ersten großen Tour 2010Wilfried Henßens Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010Wie fassungslos müssen junge Leute vor solch einem Material stehen, die Digital Nativs, die Angehörigen der Generation Y, die Druckwerke und Zeitungen als "gestrig" verhöhnen und als überkommene "Holzmedien" verächten? Wie entgeistert müssen die Millennials vor einem solchen archäologischen Fund stehen? Ließe sich ihre Neugier wecken, wenn wir erklärten, dass dies der Archetyus des modernen Bilder-Uploads ist? Ein vorzeitliches, selbst angelegtes mobiles Fotoarchiv? Eine kostbare Schatulle, die aus einem Wurmloch in die Gegenwart geschleudert wurde? Ein Schöpfungsdokument, das den Urknall des Selfpublishing mit erlebt hat und das die kosmische Hintergrundstahlung der modernen Cloud atmet?

Nein, es sollte für sich selbst sprechen! Denn dieses Unikat, das Wilfried mir an jenem Nachmittag mitbrachte, ist unbestreitbar ein besonderes Artefakt und von daher schon unreproduzierbar. Zugleich ist dieses Tagebuch ganz unmissverständlich der Prototyp eines Holzmediums, eine Antiquität, fast wie das Genre selbst, wenngleich eines der schönsten und eines der besonders liebevollen Art. Vier Bilder fasst die Doppelseite, durchnummeriert mit Klebeecken, ein händisch beschriftetes Verweissystem, mit Link auf die Datenbank des Henßenschen Log-Files, eines abgetippten Manuskriptes. Wie unbeholfen mögen Smartphon Fingers diesem Werk gegenüber sein.


Das Fotoalbum der ersten großen Tour 2010Wilfried Henßens Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010Wilfried Henßen scheint gefeit, ja resistent gegen die Ablenkungen der Modernisierung. Sein Bericht belegt, dass es keines großen Equipments bedarf, um die Schönheiten dieser Welt zu erfahren und wirklich große Abenteuer zu erleben. Er hatte sich ein Objektiv für seine kleine analoge Kamera geliehen. Das passte offenbar. Erst nach der Rückkehr, als er die ersten Abzüge sieht, stellt er erschreckt fest, dass der Bajonettverschluss nicht richtig saß. Zu spät: Jedes Bild trägt den schwarzen Rand des eingebrannten Nebenlichts, ein kreisrundes Stigma mitten im Bild. Alles umsonst? Alles dahin? Nein! Auch dies steht für Wilfried Henßen. Es ist Sinnbild, ja fast schon künstlerischer Ausdruck seiner Weltsicht, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, und sich ihrer zu erfreuen.

Das Fotoalbum der ersten großen Tour 2010Wilfried Henßens Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010So rekonstruiert auch der Betrachter seiner Bilder nach dem ersten, womöglich enttäuschten Befremden spontan das Motiv, dekodiert im seltsamen Fokus dieser Fotos die Welt, die der Fotograf für ihn / für sich hat einfangen und bewahren wollen. Ein Lächeln macht sich breit, Verständnis und Nachsicht und zuweilen Bewunderung für diese wunderbare naive Sicht auf die unverstellte triviale Wirklichkeit. Gerade die „Fehlfarben“ geben diesen Bildern ihre Realitätsmacht und ihren ganz besonderen unverfälschten Charme. Sie markieren den Fokus des Fotografen und offenbaren den selbstvergessenen Standort des Staunenden. Das ist die Perspektive von Kindern, die sich mit Taucherbrillen kopfüber in das großväterliche Aquarium hängen, um exotischen Fischen nachzuforschen und um den kleinen Abenteuern dieser großen Welt ganz nahe zu sein.

Sorgfältig hat Wilfried die Bilder nummeriert und archiviert. Er verweist im Text fortlaufend darauf.

Das Fotoalbum der ersten großen Tour 2010Wilfried Henßens Fotoalbum von der ersten großen Tour 2010Gegen das Vergessen habe er angeschrieben: gegen das drohende Vergessen. So erzählt Wilfried Henßen. Nach seinem zweiten Gehirnschlag arbeitet er mit großer Energie an der Reaktivierung seiner Mobilität und seiner Hirntätigkeit. Seine Aufzeichnungen während seiner Reisen dienen nicht nur der späteren Dokumentation, sondern der täglichen Orientierung: „Damit ich in jedem Fall weiß, wo ich gestern war“, lacht er hintersinnig.

So entstehen seine handschriftlichen Kladden. Die Aufzeichnungen fertigt er Tag für Tag mit großer selbst auferlegter Disziplin an. Meist bei kürzeren oder längeren Pausen am Straßenrand, oft auf dem Fahrersitz seines kleinen Twingos, zuweilen in den Herbergen und Quartieren unterwegs.

Sein erstes Manuskript hat er zuhause abtippten lassen. Von seiner Nichte. Sie war zeitweise arbeitslos und hat ihm gerne geholfen. Doch sie durfte nicht eingreifen, nur wenn Rechtschreibfehler zu korrigieren waren. Aber nicht stilistisch. Das hat er sich selbstbewusst verbeten. Kladden über Kladden warten im Henßeschen holzmedialen Lebensabendwerk auf Digitalisierung, Transkription, Redaktion.

BildHolzmedien - Übersetzungs-App - Deutsch - Russisch Sein Skript hat er schon Freunden und Familienangehörigen gezeigt. Ich solle es mir einmal in Ruhe ansehen. Er wolle wissen, ob man es fremden Leuten zu lesen geben könne und ob wir es veröffentlichen können.

Erwartungsvoll schaut er zu, wie ich vorsichtig die Seiten durchblättere, Abschnitte anlese, die letzten Bögen sanft über den dicken Daumen sausen lasse: „Darf ich es behalten?“ „Gerne, aber es gibt nur zwei Exemplare.“ „Leihweise, natürlich!“ „Ja, selbstverständlich“, er habe auch eine CD mit dem Textdokument bekommen. Die werde er mir das nächste Mal mitbringen: „Versprochen!“ Und die Negative, zum Nachentwickeln der Abzüge...