Ein Stück Russland

Ein Stück Russland

So, mal sehen, wie es an der Grenze in Narva zugeht. Muss die Erlebnisse und Eindrücke sofort aufschreiben, damit sie nicht verloren gehen. Die Fahrt zieht sich sehr, die Stimmung weiß Gott nicht berauschend. Zum Glück ist es von oben trocken. Manchmal kommen mir Zweifel an meiner Unternehmung. Ob ich wohl die Jahreszeit richtig gewählt habe? Mir schien das Frühjahr günstig. Das frische Grün, der Flieder, Apfel- und Rapsblüte begleiten mich bis hier. Es ist eine Augenweide. Manche der alten, grauen Holzhäuschen sind ganz mit wildem und weißem Flieder zugewachsen. Endlich komme ich an der Grenze an. Schon vier Kilometer vor der Stadt Narva kündigt das die LKW-Schlange an. Jetzt hat man viel Zeit und Geduld mitzubringen. Nutze die Gelegenheit erneut mein Handy zu aktivieren. Hurra, hurra, es funktioniert, schnell meine Schwester in Berlin informieren.

Nach langem Warten komme ich endlich am ersten Wachhäuschen Zoll „Toll“ an, schickt man mich drei Kilometer zum Transitservis zurück. Ich muss 300 Rubel für die Einreise bezahlen. Die Dame kassiert kurzerhand 20 € von mir, was einen Gegenwert von 770 Rubel ausmacht. Registriert und Toulon erhalten, dann wieder nach vorne, aber zum Glück nicht wieder ans hintere Ende der Schlange. Eine Frau hinter mir hilft mir, die Deklaration zu schreiben. Leider kann ich nicht mehr sagen, wie viele Häuschen und Kontrollen ich passieren musste. Immer wieder die gleichen Fragen und Papiere. Zum Schluss aber ein Offizier und eine Offiziöse, die Deutsch sprechen können. Eine Erleichterung!! Dann endlich bin ich durch. 18:45 Uhr, das Kontor, in dem ich Geld umtauschen will, hat schon geschlossen. Nebenan ist eine lange Schlange mit Menschen, die - zu Fuß und schwer bepackt - die Grenze nach Estland passieren. Viele russische Bürger leben in der Stadt Narva. Sie decken dann ihren Bedarf an Gütern aller Art – über die Grenze – in Russland.

Bis nach Petersburg? Nein, ich bin zufrieden für heute. „Ich habe die Schnauze voll“ sagt man nicht, ich habe die Reise gewollt. Es regnet wieder heftig und ich mache mich auf Zimmersuche. Meine vorgefertigten Fragen raus und runter von der Hauptstraße.

An der ersten Stelle werde ich von einem großen Hund abgewiesen. Dann öffnet sich doch die Tür. Heraus kommt eine Frau, doch sie hat überhaupt keine Beine. Ich schäme mich so, dass ich sie überhaupt gestört habe. Die arme Frau bewegt sich auf Rutschhilfen. Sie bittet mich, doch drei Häuser weiter nachzufragen. Dort ist niemand, aber gegenüber am Gartenzaun ist ein alter Mann. Er setzt seine Sense ab und ich halte ihm meine Fragen vor. Er weist mich an, mein Auto von der schmalen Straße weg, bis an den Graben zu fahren. Der Alte bittet mich, mit ihm in sein Haus zu kommen. Ich folge ihm, er spricht einige Worte mit seiner Frau. Ich bin mittlerweile nass wie eine Katze. Djeduschka meint, ich solle meine nassen Schuhe ausziehen und dafür seine Filzstiefel anziehen. Babuschka schnappt meine Schuhe, stellt sie zum Trocknen auf die Backofenklappe und fragt: „Kuscha, Kuscha“, ob ich doch essen möchte und macht Abendbrot für mich.

Nennt man das Glück? Nein, das kann man so leicht nicht beschreiben. Dieser herzliche Umgang, als wäre ich einer von ihnen und nicht ein Wildfremder. Opa zeigt mir die Schlafstelle, die Waschgelegenheit, die Toilette usw. Die Armut springt einem förmlich in die Augen. Aber so eine wohltuende Herzlichkeit kann man nicht in Worte fassen. So etwas lässt den Tagesablauf mit seinen Widrigkeiten ganz vergessen. Mit Worten haben wir uns nur wenig verstanden, aber im Herzen ganz. Oma macht für mich auf dem Sofa ein Bett zurecht.

29.5.2010
Dobre utra! Wir haben alle gut im Wohnzimmer geschlafen.
Ich gehe nach draußen an die Regentonne um mich zu waschen, und Oma drückt mir noch ein Stück Seife in die Hand. Zum Frühstück gibt es Kascha Afios, zu Deutsch Haferbrei, Brot und Tschei.
Ich frage, ob ich noch einige Fotos machen dürfe, was mir bereitwillig erlaubt wird.

Siehe Bilder 41 bis 47

Jetzt will ich bezahlen, aber Oma sagt: „Njett“. Sie will partout kein Geld und zeigt mit dem Finger nach oben. Ich habe vorher schon ihre Adresse erbeten und weiß jetzt auch schon, was zu machen ist.
So ein schönes Land, so ehrliche gute Menschen, nur das falsche System. Mit Gottes Segen verabschieden wir uns. Spontan pflückt Opa noch einen Fliederstrauß für mich. Dieser Abschied geht wirklich unter die Haut. Die Beiden haben noch weniger als das Minimum und das teilen sie noch mit mir.
Ich habe gar keine Lust, große Strecken zu fahren. Solche Erlebnisse wollen auch verdaut werden. Ich verlasse das Dorf und sehe die Frau ohne Beine, wie sie mit zwei anderen Frauen auf dem Feld Kartoffel pflanzt. Da läuft mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Wenn man so etwas sieht, hat man Mitleid und Wut zugleich.

Da kann man nicht gleich zur Tagesordnung übergehen. Schreibzeug raus und festhalten.

Können Gefühle überhaupt festgehalten werden? Wie auch immer die letzten 24 Stunden gewesen sind, ich möchte keine davon missen.
Mit diesen Gedanken im Kopf, fahre ich weiter in Richtung Petersburg, lasse die Augen in der Landschaft versinken, um etwas Wohltuendes aufzusaugen. Bin nicht mehr weit von der Großstadt entfernt und beginne heute rechtzeitig mit der Suche nach einer Unterkunft. Im nächsten Dorf gehe ich auf bewährter Weise vor und spreche am Ortsrand einen älteren Herrn an. Oh, oh, das ist das Gegenteil von dem, was ich bisher erlebt habe. Er schimpft, ich solle in der Stadt zu einem Hotel gehen. Ich bedanke mich höflich, spasiwa. Er hatte vielleicht schlechte Erinnerungen an die „Deutschen“ und ich bin ihm nicht böse. Ich fahre durch eine Plattenbausiedlung, und es kommt mir der Gedanke: „Bloß nicht hier.“ Einem Mann, der seine Datscha repariert, stelle ich die üblichen Fragen. Er spricht kurz mit seiner Frau, telefoniert und will mit mir fahren und mir den Weg zeigen. Das kann er aber nicht wegen meinem Gepäck. Also macht er mir eine Skizze und geht zu Fuß quer Beet. Ich komme an und er ist schon da, obwohl es schon eine Ecke zu laufen war. Und wo sind wir? Aber richtig, in den Plattenbauten. Inzwischen hat es wieder heftig geregnet, Gummistiefel wären jetzt besser. Dann 4. Stock, Treppenhaus, oh, oh, oh. Der Häuslebauer geht mir voraus. Wir kommen oben an und eine gut verriegelte Doppeltür öffnet sich. Eine Frau bittet mich freundlich herein und der Mann, dem ich das zu verdanken habe, verabschiedet sich.

Welch ein Glanz strahlt mir da entgegen, komfortabel eingerichtet. Mit dem siebenjährigen Micha freunde ich mich schnell an. Ich wolle sicher duschen nach der Reise? Gesagt, getan. Oleg, der Ehemann, kommt von der Arbeit und sie hat einen Gast in die Wohnung gelassen … Das ist aber kein Problem und Nadja macht für uns alle das Abendessen. Silone Borscht. Wir erzählen mit Händen und Füßen und lachen noch viel. Sie raten mir eindringlich davon ab, alleine in die Stadt Petersburg hinein zu fahren und dann das Auto unbeaufsichtigt stehen zu lassen, dazu ohne Navi. Bei den Sehenswürdigkeiten würden die Touristen nur durchgeschoben, nicht mal stehen bleiben wäre drin. Jetzt aber nicht zu spät ins Bett, weil Nadja und Oleg sonntags auch arbeiten müssen. Oleg in einem Umspannwerk und Nadja in der Molkerei, jeweils im Ort. Sie würden auch nicht schlecht verdienen, sagen sie mir. Es fehle ihnen an nichts. Das habe ich nicht hinter der Fassade des Plattenbaus vermutet.

Siehe Bilder 48, 49 und 50

30.5.2010
Dobre Utra! Gut geschlafen, bis auf etwas Spastik und das Nachjucken von den Mückenstichen, mich haben schon einige Mücken erwischt.
Nach dem Kascha-Frühstück will ich bezahlen, was Nadja vehement ablehnt. Den entsprechenden Obulus lasse ich unter einer Tasse liegen.
8:45 Uhr, russ. Zeit, Abfahrt. Leider werde ich Petersburg nicht sehen, sehr schade. Auf der E20 von Narva in Richtung Petersburg mache ich an einem großen Kriegerdenkmal halt, zu Ehren der Helden, die im großen vaterländischen Krieg gefallen sind.

Siehe Bilder 51 und 52

So ähnlich hat mir das ein junges Ehepaar erklärt. Für sie ist es fast verpflichtend, es ihrem zehnjährigen Sohn zu zeigen. Auf der Karte haben Sie mir dann auch noch meinen aktuellen Standort und die beste Umgehung um Petersburg gezeigt. Auf dem Ring um die Stadt, über die Newa, dann Murmanskichaussee abbiegen. Karachow, das ist schon eine große Hilfe gewesen.

Siehe Bild 53

Spasiwa, spasiwa. Bauchgefühl, Uhrzeit, Sonnenstand und weiter geht’s. In Russland gibt es ja noch eine andere Herausforderung: die Straßenschilder auf Kyrillisch und dann schnell genug umschalten. Da qualmt schon mal der Kopf. Ich habe genügend Magnesium mit auf die Reise genommen – gegen den Stress. Da Josefa nicht aktiv am Verkehr teilnimmt, schläft sie des Öfteren ein. Plötzlich geschieht es, Volltreffer, ein großes Schlagloch. Ganz verstört ist Josefa wieder wach. Entschuldigung, zum Glück ist sie mir nicht böse. In dem dichten Betrieb auf der Straße kann man nicht immer um die Löcher herumkommen.
Gebe zu, ich komme nicht fehlerfrei durch dieses Straßenlabyrinth, hin und wieder mal ein Stück zurück. Aber man sieht dann ja viel mehr von der Gegend. Da endlich die Anzeigetafel „Murmanskichaussee“. Man muss sich vorher nur gut einprägen, wie es geschrieben wird, dann geht’s. Mir fällt auf, dass um die Stadt herum – wahrscheinlich durch die hohe Verkehrsdichte – nicht nur die Nadelbäume absterben, sondern auch ein breiter Streifen Birken entlang der Straße. Die Straßenbezeichnung lautet: M18 E105, mit Zielort Murmansk, Kyrillisch MYPMAHCK, es ist eine lange Strecke um den unteren Teil des Ladogasees bis kurz vor der Stadt OЛOHEЦ.

Siehe Bild 54

Nun geht es auf der kleineren Straße A130 weiter am See entlang Richtung Norden. Eine herrliche Landschaft, die Straße führt manchmal direkt am See vorbei, das ist ein Meer, man sieht, dass die Erde rund ist. Dann wieder Dörfer beiderseits des Flusses, so friedlich und schön. Kein Haus ist wie das andere. Viele Formen und Farben, graues verwittertes Holz überwiegt.

Siehe Bild 55

Ich könnte hunderte von Aufnahmen machen. Es bietet sich eine Gelegenheit, an den See heranzufahren. Der Sand am Ufer ist nicht wie herkömmlicher Sand, er ist rot und hat eine andere Struktur. Ich fülle mir eine Tüte mit zwei handvoll Sand ab. Fasziniert bin ich auch von der Farbe des Wassers. Ich kann bei Weitem nicht mitreden, wenn es um Farben von Wasser, Seen und Meeren geht, aber dieses Blau werde ich sicher nicht vergessen.

Siehe Bilder 56 und 57

Bald verlasse ich den See, der mich mit seiner Landschaft sehr beeindruckt hat, und fahre in Richtung Grenze. Ich frage zwei etwa zwölfjährige Jungen, die im Dorf am Straßenrand stehen, nach einer Tankstelle. „Benzin-Maschin? Wo? Kilometer?“ Die Jungen verstehen sofort und meinen sto Kilometres. Also 100 km, oh,oh. Und Graniza Finnlandia? Dwa sto Kilometres, also 200 km. Ich bedanke mich bei den netten Burschen. Dann sehe ich mir meine Tankanzeige sehr genau an. Ob das wohl reicht? Gas habe ich schon länger nicht bekommen, von wegen weit verbreitet, dünn gesät passt besser. Mal haben sie keinen Adapter, dann nehmen sie keine Euro, dann keine Karte. Mich zieht es wirklich an die Grenze, dahinter wird es sicher leichter.

Es geht weiter durch die schöne Landschaft. Finnland soll ja das Land der tausend Seen sein, dann ist Russland das Land der ungezählten Schlaglöcher. Ich kann euch sagen, Geschicklichkeitsfahren oder Sicherheitstraining ist dagegen ein Kinderspiel. Da kann es schon mal passieren, dass mir hinter der nächsten Kuppe, auf meiner Spur ein Wagen entgegen kommt. Überholverbot oder doppelte durchgezogene Linie zählt nicht, Hauptsache: wenig Löcher treffen. Und das oft mit Affentempo.

Die Jungs im Dorf hatten Recht. Nach fast 100 km ein Dorf mit Tankstelle. Man muss sich schon angewöhnen, vorher zu fragen, ob mit Euro oder EC-Karte getankt werden kann. Das ist dieses Mal nicht der Fall. Njett, Rubly! Ob es denn noch eine Tankstelle gebe – da, da, piet Kilometer – ja, ja, fünf Kilometer. Spasiwa und weiter und die Anspannung wächst. So kurz vor der Grenze habe ich doch keine Rubel mehr. Wer sagt’s denn, Statoil in Sicht. Wieder die gleichen Fragen. Da, da, Mastercard. Ha, habe selten so gerne voll getankt. Mit einem besseren Gefühl im Magen geht es weiter. Jetzt ist die Frage, ob ich in einem russischen Wald schlafen soll. Für Quartiersuche ist es ohnehin zu spät. Noch würde es reichen, mit der Drei-Tagesfrist über die Grenze zu kommen. Also, bringen wir es hinter uns. Vielleicht ist es in der Nacht auch nicht so voll an der Zollstation. Es wird hier schon nicht mehr richtig dunkel. Bin fast alleine unterwegs. Wer von Finnland hier in Russland reinkommt, hat mit diesen Straßenverhältnissen wirklich keinen guten Empfang. Taghell ist die Zollstation erleuchtet und nur ein Wagen vor mir, schon mal gut. Ein Mann versteht etwas Deutsch. Die Zöllner scheinen müde und lustlos zu sein. Ich brauche nur einmal eine Deklaration auszufüllen, auspacken brauche ich auch nicht, man hat mir geglaubt. (Was so eine ehrliche Visage doch ausmacht.) Nach vier Stationen war ich um 00:15 Uhr in Finnland. In einem Waldstück das Auto abgestellt, die Anspannung lässt deutlich nach. Ich weiß nicht wieso, habe ich doch in Russland so viel Schönes erlebt, und trotzdem spüre ich eine gewisse Erleichterung, nun bin ich in einem Land der EU mit Euro. Das gibt mir doch einen Hauch von einem „zuhause Gefühl“. Dann muschele ich mich doch beruhigt in meinem Twingo zum Schlafen ein.

Siehe Bild 58

Fortsetzung: Finnland rauf nach Norden